Bauchgefühl im Interview

Sarah Böning
13. Dezember 2024 - Lesedauer: 4 Minuten
Sarah sitzt am Laptop und schreibt einen Blogbeitrag zum Thema Bauchgefühl im Interview
Lesedauer 4 Minuten

Hey du,
heute starte ich mal mit zwei sehr persönlichen Geschichten zum Thema „Bauchgefühl im Interview“.
Und zwar hat mich HeyJobs kürzlich gefragt, was meine Lieblingsgeschichte oder auch meine schlimmste Geschichte ist. 😉

Starten wir mit meiner „Lieblingsgeschichte“

Diese ereignete sich vor sehr vielen Jahren. Meine Kollegin und ich haben in zwei separaten Räumen zeitgleich Vorstellungsgespräche geführt – ich rechts, sie links. Die Bewerbenden warteten im Empfangsbereich. Und dann kam es zur Verwechslung! Wir haben jeweils den „falschen“ Bewerber mitgenommen, obwohl wir sie auch mit Namen angesprochen hatten. 😅


Es hat ganze acht bis zehn Minuten gedauert, bis wir bemerkten, dass irgendetwas nicht stimmte. Aussagen wie „Sind Sie gut aus Esslingen hergekommen?“ oder „Sie haben ja XY in YZ studiert?“ passten plötzlich überhaupt nicht. Dass es uns nur anhand der Angaben aufgefallen ist und nicht am persönlichen Erscheinen, ist ehrlich gesagt kurios. Am Ende war das Ganze einfach nur lustig – und obwohl es rund 19 Jahre her ist, erinnere ich mich noch genau an das Gefühl. Woran ich mich aber nicht mehr erinnere, ist der eigentliche Ausgang des Recruiting-Prozesses. 😄 Ich ahne, wir waren dann im Gespräch nicht mehr 100% neutral bei der Sache…

„Schlimme“ Aussagen und Situationen erlebe ich leider immer wieder – vor allem in meinen Trainings mit HR-Fachleuten und Hiring Managern. Hier ein paar Beispiele, die sehr oft angesprochen werden:
„Eine Note wie 2,3 ist nicht exzellent genug.“
„Der Lebenslauf passt kulturell nicht – allein die Hobbys zeigen das schon.“
„Wie können wir eine Absage wegen einer Behinderung formulieren? Die Person hat angegeben, mal eine Depression gehabt zu haben…“
„Mit 61 können wir niemanden mehr kennenlernen. Das passt nicht zur langfristigen Planung.“

Besonders häufig höre ich auch: „Ich möchte herausfinden, wie jemand tickt und ob er kulturell zu uns passt“ – aber ohne jegliche Struktur im Interview, rein aus dem Bauchgefühl heraus.

Was ich daran positiv finde: Diese Gedanken werden offen ausgesprochen, statt im Verborgenen zu bleiben. Das gibt mir die Möglichkeit, aufzuklären, zu reflektieren und die Gespräche dahin zu lenken, was wirklich zählt: Menschen anhand der für die Rolle relevanten Anforderungen kennenzulernen. Erstaunlich – und manchmal auch „schlimm“ – ist jedoch, wie viele Menschen damit ringen, ihre Anforderungen überhaupt klar zu formulieren.


Struktur im Interview-Prozess

Warum eine strukturierte Herangehensweise im Interview wichtig ist…
Kurzum, das Wichtigste:

  • Für Fairness.
  • Für objektive Vergleichbarkeit.
  • Für valide Personalauswahl.
  • Für den Fokus auf die erfolgskritischen Anforderungen.
  • Für Sicherheit bei Entscheidungen – egal ob Zusage oder Absage.

Die größten Mythen im Recruiting

Mythos Nr. 1: Alter

Das Alter von Kandidat:innen sagt nichts über den späteren beruflichen Erfolg aus – die Validität liegt hier bei 0,0. Dennoch begegnen mir ständig Aussagen wie:
„Der ist zu alt.“
„Die ist zu jung.“
„Der geht doch bald in Rente.“
Diese Denkweise verschärft nicht nur den hausgemachten Arbeitskräftemangel, sondern verstößt oft gegen das AGG.

Pfeile die nach links für Mythen und rechts für Fakten zeigen

Mythos Nr. 2: Hobbies

würfel mit buchstaben zu fakten und mythen im recruiting liegen auf einem tisch

Ich kann es kaum noch hören:
„Leistungssportler:innen sind ambitio-nierter.“
„Wer viel liest, ist ruhiger.“
„Die Person trifft nur Freund:innen – das passt nicht zu uns.“
Diese Annahmen basieren nicht auf Daten und sind oft pure Interpretation. Dabei haben Kandidat:innen das Recht, selbst zu entscheiden, wieviel sie aus ihrem Privatleben preisgeben möchten – oder ob überhaupt.

Ich empfehle den Austausch zu Hobbys vor allem für das Ende des Gesprächs, um einen „guten Abschluss“ im Sinne einer Candidate Journey zu erzielen. Wenn man das ganz am Anfang macht, kann es aus meiner Sicht die Gefahr von Beurteilungsverzerrungen steigern. Zum Beispiel könnte es bei mir der Fall sein, dass ich jemanden eher „bevorzuge“, der wie ich gerne um die Welt reist und mit dem Camper unterwegs ist – als jemand mit Leidenschaften wie Fußball oder Skifahren, was beides „nicht so meins“ ist.


Methoden für objektive Beurteilung im Bewerbungsprozess

Meine Tipps, wenn man sich kontinuierlich zu Biases / Beurteilungsverzerrungen reflektieren möchte:

Und für den Alltag empfehle ich „vermeintlich“ einfache Methoden:

  • Lebenslauf selbst schreiben: Besonders hilfreich, wenn das letzte Mal schon länger her ist. Es zeigt, wie herausfordernd dieser Prozess für Kandidat:innen sein kann.
  • Interview zu zweit führen: Eine Person führt das Gespräch, die andere beobachtet und reflektiert. Anschließend tauscht man sich über Wahrnehmungen, Eindrücke und Fragen aus.

Bedeutung der Anforderungsanalyse im Recruiting

Die Anforderungsanalyse ist für mich der Schlüssel zur Personalauswahl. Sie hilft dabei, die „Richtigen“ zu finden, die zur Rolle passen und bleiben.
Oft entstehen in der Praxis die Job Postings (leider) zu schnell. Zu sehr geht man sofort auf den Blickwinkel: Welche Aufgaben soll jemand übernehmen und welche klassischen Anforderungen sollte man als „eierlegende Wollmilchsau“ mitbringen? Und dann schreiben wir gerne:

  • Erst etwas über das Studium oder die Ausbildung
  • Die fachlichen Aspekte
  • IT-Know-how
  • Sprachkenntnisse
  • Ein paar (zu viele) Soft Skills
  • Eventuell formale Dinge wie z. B. Führerschein

Doch sind das wirklich die erforderlichen Kompetenzen? Welche Must-haves sind für die gesuchte Stelle essenziell? Weniger ist mehr! Und was ist noch sehr gut erlernbar und lässt sich auffrischen? Alles andere kann ganz mutig weg!

Die drei wertvollen Erkenntnisse aus der Anforderungsanalyse für mich sind:

  1. Fokus auf das Tun, nicht auf das Sein: Welche Aufgaben soll jemand übernehmen und was ist dafür notwendig?
  2. Storytelling für die Rolle: Was ist der Impact der Position? Was ist der Alltag in der Rolle? Das macht Job-Postings attraktiver und zielgruppenspezifischer.
  3. Vertrauensaufbau mit dem Fachbereich: Die Analyse schafft Klarheit und stärkt das Verständnis zwischen HR und Hiring Managern. Legt von Anfang an den Fokus auf TEAMWORK!

Jetzt merke ich, ich könnte noch so viel mehr zum Thema Bauchgefühl im Interview schreiben… 😉
Aber ich will mal eure Zeit nicht überstrapazieren und melde mich bald wieder mit weiteren Impulsen. Wieder herzlichen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, den Artikel zu lesen. Bei Fragen gerne die Hand strecken…


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